Zum Wesentlichen vordringen – Teil I
Vom Anwendernutzen des Christentums
Einer der Gründe, warum die verfassten Kirchen ihre Bindungskraft verlieren, ist sicher die Frage der Nützlichkeit.
Was bringt es mir, wenn ich mich als gläubiges Mitglied einer Kirche engagiere?
Die moderne säkulare Gesellschaft hat die Begründungspflicht umgekehrt. War es früher selbstverständlich sich öffentlich als Kirchenmitglied zu zeigen, so muss heute der Gläubige vor sich und seinen Mitmenschen begründen können, warum er oder sie (noch) praktizierendes Kirchenmitglied ist.
Dabei trennen wir Glauben, Religion und Spiritualität von der Mitgliedschaft in einer Kirche. Viele setzen sich auch nach dem Baukastensystem ihre eigene Glaubenswelt zusammen. So kann man sich heute als Christ fühlen und gleichzeitig an den Kreislauf der Wiedergeburt glauben. Ein befreundeter Pfarrer erzählte mir, dass es für seinen studentischen Oberministranten kein Problem bedeutete, seinen Altardienst zu leisten und dennoch aus der Kirche auszutreten. Gleichzeitig erleben wir die Wiederkehr des Religiösen durch eine andere, bisher fremde Religion, den Islam.
Wir postchristlichen Westler oder atheistisch erzogenen Menschen des ehemaligen Ostblocks sehen irritiert junge Frauen, die ganz selbstverständlich und stolz das Kopftuch als öffentliches Zeichen ihres Glaubens tragen. In anderen Teilen der Welt ist praktizierte Religiosität ein ganz selbstverständliches Phänomen und bestimmt das Lebensgefühl der Gesellschaften und das Handeln der Politik. Das lässt darauf schließen, dass Religion so schnell nicht verschwinden wird und wir damit leben und rechnen müssen. Vielleicht auch ein Impuls, um sich mit den Rudimenten des Christentums in unseren eigenen Breiten wieder zu beschäftigen.
Wir leben in einer Umwelt, die unübersehbar von ihrer christlichen Vergangenheit geprägt ist; die Kreuze auf den Berggipfeln, die Marterl an den Wegen und die ragenden Kirchtürme geben davon Zeugnis. Und die Werte, die unser Handeln und Zusammenleben bestimmen, sind ohne die Christentumsgeschichte und die Auseinandersetzung damit nicht denkbar.
Welchen Nutzen könnte unsere Religion, das Christentum für uns postchristliche, säkularisierte Menschen der Moderne bringen?