Rücksicht – eine Forderung zuerst an sich selbst

Anselm Bilgri raucht gern abends einen oder zwei Zigarillo. Das Thema Rücksicht ist ihm wie den allermeisten Rauchern daher ein wichtiges. Er weiß, dass Menschen Rücksicht oft von anderen fordern, selten aber zunächst von sich selbst.

„Rücksicht“ wird in keinem der gängigen Lexika behandelt, weder im Brockhaus, noch in einem philosophischen oder theologischen Wörterbuch. Auf Wikipedia erscheint unter dem Stichwort nur der deutsche Beitrag zum Eurovision Song Contest 1983 in München. Die Sänger Hoffmann und Hoffmann errangen den 5. Platz mit dem Lied „Rücksicht (Nachsicht, Vorsicht)“.

Das mag ein Hinweis darauf sein, dass das Thema Rücksicht entweder schwierig zu behandeln ist oder zu selbstverständlich. Ein Grund für die stiefmütterliche Behandlung könnte die Feststellung des Gentechnikers Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger sein, der sagte: „Rücksicht ist eine nostalgische Tugend geworden.“

Das Gegenteil von Rücksicht wäre: Vorsicht. Rücksicht weist also hin auf den Vorgang des Zurückschauens, lateinisch re-spicere. Daher kommt unser Fremdwort Respekt. Respekt und Rücksicht sind aber nicht deckungsgleich. Rücksicht ist ein aktives Verhalten, Respekt dagegen eine Haltung, die zu Rücksicht führt.

Das Wort Respekt weist auf einen weiteren Begriff hin: die Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Seit der Aufklärung gehört zur Würde des Menschen seine individuelle Freiheit, die grundsätzlich nicht beschnitten werden darf.

„Man nimmt Rücksicht, statt sie zu geben.“

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“, sagte Rosa Luxemburg. Das bedeutet auch: Die eigene Freiheit endet bei der Freiheit des anderen. Rücksicht bedeutet also, die Freiheitsräume des anderen zu respektieren.

Eigenartig ist unser Sprachgebrauch: Man nimmt Rücksicht, statt sie zu geben. Rücksicht ist also mehr eine Haltung, die ich mir gegenüber anderen Menschen aneigne, als die Gewährung einer Gunst oder Zuneigung zu einem anderen. Daher ist Rücksicht eine Forderung an mich selbst. Ein Bonmot des Aphoristikers Karl-Heinz Karius geht so: „Mit Absicht vermiedene Rücksicht auf die Ansichten anderer mindert in jeder Hinsicht die Aussicht auf eigene Einsicht.“

In vormodernen Zeiten herrschte die Pflicht- und Sollensethik vor. Die Aufgabe des einzelnen war es, vorbildliche Personen nachzuahmen, die vorgegebene Ordnung zu übernehmen und gleichzeitig die rollenspezifischen („ständischen“) Pflichten zu erfüllen. In der Moderne wurde dieser Ansatz abgelöst durch die Selbstverwirklichungsethik, deren Zuspitzung die heute gängige Selbstoptimierung ist. Dieser Paradigmenwechsel führte zu dem heute dominierenden Individualismus, der allzu oft auch im Gewand des Egoismus auftritt.

Der Individualismus ist, positiv gesehen, eine Frucht der Hochschätzung der Freiheit des einzelnen. Er hat somit zur Französischen Revolution geführt mit ihrer Parole „Liberté, Egalité, Fraternité“; ebenso zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung mit der Forderung „pursuit of happiness“.

„Rücksicht hat auch mit Höflichkeit zu tun.“

Das eigene Glück, die Suche nach dem je eigenen Sinn, darin besteht die Sorge des modernen Menschen. Rücksicht hat auch mit Höflichkeit zu tun. Ursprünglich die Umgangsformen der Höflinge kennzeichnend, wurden sie seit dem Buch des Freiherrn von Knigge (Über den Umgang mit den Menschen“) auch zu den Umgangsformen des bürgerlichen Mittelstandes.

Waren im 18. Jahrhundert der französische Hof, im 19. Jahrhundert der englische Gentleman stilbildend, so war es im 20. Jahrhundert der US-amerikanische business man. Ein Beispiel ist der Smoking. Nach dem Dinner zogen sich die Damen in einen eigenen Raum zurück und die Herren in den Rauchsalon. Um die Damen beim anschließenden Zusammentreffen nicht mit rauschgeschwängertem Jackett zu inkommodieren, zog man zum Rauchen ein eigenes Sakko an: den Smoking.

Ein ethischer Grundsatz für Rücksichtnahme ist sicher die Goldene Regel, das Gesetz der Reziprozität, das in allen Kulturen und Religionen der Welt vorkommt. Wir kennen die negative Formulierung als gereimtes Epigramm: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem anderen zu!“

Und die positive Formulierung lautet: „Behandle andere Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Das hat auch Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ ausgedrückt: „Handle stets so, dass die Maxime deines eigenen Handelns zur allgemeinen Maxime werden kann.“

Hier ein Ausschnitt aus einem Vortrag beim Tabakverband zum Thema Rücksicht

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