Mehr Streit bitte !
Der frühere Prior von Kloster Andechs Anselm Bilgri plädiert für leidenschaftliche Auseinandersetzung in der Politik. Was passiert, wenn es keinen Streit mehr gibt, könne man an der katholischen Kirche sehen.
Die Bundestagswahl hat wieder eine so genannte kleine Koalition möglich gemacht, und das wird unserem Land guttun. Gut, weil es wieder mehr Auseinandersetzung geben wird: unter den recht heterogenen Koalitionsparteien zum einen wie auch zwischen Regierung und Opposition. Demokratie braucht das Ringen um den richtigen Weg.
Wie sehr es in unserem Land brodelt, hat das Ergebnis der Bundestagswahl gezeigt.
Wie sehr es in unserem Land brodelt, hat das Ergebnis der Bundestagswahl gezeigt. Ich meine, ein Grund dafür lag in der ständigen Konsenssuche der beiden großen Koalitionen in den vergangenen zwölf Jahren. Wir haben weder über den Atomausstieg gestritten, noch über die Abschaffung der Wehrpflicht oder eine moderne Zuwanderungspolitik. Ich bin sehr für sie, aber dass wir die Ehe für alle einführen, innerhalb einer Woche, nachdem die Bundeskanzlerin sie in einem Interview begrüßt hat, um anschließend gegen sie zu stimmen – das hat wenig mit demokratischer Meinungsbildung zu tun.
Wir Deutsche sind ja, was unsere Lust am Streit anbelangt, ein etwas zwiespältiges Wesen: mit Nachbarn fetzen wir uns manchmal bis vor Gericht, gleichzeitig hielten wir die große Koalition trotz ihrer Defizite vor der Bundestagswahl für die wünschenswerteste aller möglichen Konstellationen. Sicher: Konsens ist notwendig und eine Stärke unseres Landes. Wenn er aber zur Kontur- bzw. wie die Bundeskanzlerin es gern nennt Alternativlosigkeit führt, dann schadet das der Demokratie. Sie braucht Konturen, Auseinandersetzung, auch leidenschaftlich geführte. Wo sind heute Typen wie Franz Josef Strauß oder Herbert Wehner?
Ich weiß aus der katholischen Kirche sehr genau, dass eine immerwährende Kultur des Konsenses einer Organisation nicht guttut.
Ich plädiere nicht für Hitzköpfe, aber ich weiß aus meiner Erfahrung in der katholischen Kirche sehr genau, dass eine immerwährende Kultur des Konsenses einer Organisation nicht guttut – schon gar nicht, wenn sie sakrosankt legitimiert ist. Vor Franziskus gab es Jahrzehnte keine Diskussion mehr über die wesentliche Ausrichtung dieser Kirche: die Rolle der Laien etwa, der Homosexuellen, die Weihe verheirateter Männer, gar das Frauenpriestertum. Wer sich hier gegen Rom positionierte, sollte – wie Hans Küng – mundtot gemacht werden.
Eigentlich müsste die katholische Kirche in Deutschland streitbarer sein als anderswo, ein Erbe der Reformation. Das evangelische Synodalprinzip führt ja dazu, dass auf allen Hierarchieebenen debattiert und im besten Sinn des Wortes gestritten und um den rechten Weg gerungen wird. Sollte es stimmen, dass die deutsche Gesellschaft, auch in ihren katholischen Teilen, protestantisch geprägt ist, so verspürt man aber von der Lust am rechten Streiten, an der sachlichen Debatte, am Diskurs zu den wichtigen Fragen der Zeit auch in unseren Tagen wenig. Wo spricht sich ein Bischof (endlich) für die Aufhebung des Pflichtzölibats auf, eines der drängendsten pastoralen Themen?
Wo bleiben die Auseinandersetzungen um die großen bewegenden Themen, die es gibt und die die Menschen bewegen?
Gleichzeitig grollen viele Menschen, und verabschieden sich: zuerst still und unmerkbar. Dann treten sie aus. Genauso verhält es sich meines Erachtens mit der Demokratie: zuerst wählen Menschen nicht mehr. Dann beginnen sie gegen das demokratische System zu agitieren, und zwar weil sie sich mit ihren Themen im politischen Diskurs nicht wiederfinden. So wenig wie viele Katholiken in den Verlautbarungen ihrer Bischöfe zu den Themen, die ihnen brennen.
Wo bleiben die Auseinandersetzungen um die großen bewegenden Themen, die es gibt und die die Menschen bewegen? Werden sie wirklich abgebildet durch die täglich sich abwechselnden Talk-Shows mit den immer gleichen Diskutanten? Dem Aufklärer-Papst Voltaire wird der Spruch zugeschrieben: Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen. Mit Herzblut um die Sache ringende Politiker wünscht sich das Land, die dezidiert ihre Meinung, sei sie liberal, konservativ oder links vertreten und nicht schon erkennbar auf spätere Pöstchen in einer wie auch immer gearteten Koalition schielen. Wenn die Leidenschaft für oder gegen eine Sache fehlt, dann verkümmert diese. Das wissen wir in der katholischen Kirche sehr genau. Sie braucht den Streit genauso dringend wie unsere Demokratie.