Corona und die Werte

Das Wertedilemma • Kolumne von Anselm Bilgri

Immer wieder hört man in diesen Tagen, dass die Krise sowohl das Gute als auch das Schlechte in den Menschen sichtbar werden lässt. Sie sorgt also dafür, dass die vorhandene oder fehlende Werteorientierung sichtbar wird. Die Krise als solche ist schon Ausdruck eines Wertedilemmas:

Was wiegt schwerer,

  • das Menschenrecht (ein anderes Wort für gemeinsame Werte einer demokratisch verfassten Gesellschaft) auf Unversehrtheit oder
  • eines der vielen anderen deshalb eingeschränkten Grundrechte wie die Freizügigkeit oder die Berufsfreiheit?

Heruntergebrochen lässt sich das bei den kleinen Alltagskonflikten beobachten, wenn ein ängstlicher Zeitgenosse die mit ihm an der Supermarktkasse anstehenden Mitmenschen aggressiv auf die Einhaltung des Mindestabstands hinweist und ein anderer, nicht minder aggressiv antwortet, er finde diese Maßnahmen sowieso alle furchtbar übertrieben.

 

Die Menschlichkeit des Menschen

Wie schwer sich selbst die an Konfliktmanagement gewöhnten Politiker mit den Wertedilemmata dieser Tage tun, sieht man auch an den ad hoc einberufenen Ethikkommissionen, die etwa die gefürchteten Triage-Konstellationen der Mediziner lösen helfen sollen: Welches Leben ist wertvoller, wenn ich einem mit dem Tode ringenden Patienten das Beatmungsgerät wegnehmen muss, um es einem anderen anzulegen?

„Ungeheuer ist vieles, ungeheurer aber ist der Mensch“lässt Sophokles in seinem Drama Antigonae den Chor der Alten singen.

Auch dieses Schauspiel handelt von einem Wertekonflikt, in dem die Protagonistin steckt. Soll sie den Leichnam ihres Bruders bestatten oder dem Gesetz des Königs gehorchen, der dieses verboten hat?

Von einem der Jubilare dieses Krisenjahres 2020, dem Dichter Friedrich Hölderlin, der unter anderem die Antigonae übersetzt hat, stammt ein Wort, das es lohnt, in unserer globalen Situation zu bedenken: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Das Rettende liegt im Bewusstwerden der „humanitas“, der Menschlichkeit des Menschen. Er ist eben nicht nur ungeheuer, er ist wahrscheinlich das einzige Lebewesen unserer Welt, das sich des Wertes des eigenen Lebens und das anderer bewusst ist und hofft, dass dies die ganze Menschheit auszeichnet: Der Primat des pulsierenden lebendigen Lebens, vor allen Strukturen, die wir eigentlich nur geschaffen haben, um dieses Leben zu schützen und die es aber verselbständigt oft genug bedrohen.

Erich Fromm hat diesen Wert aller Werte Biophilie genannt, „Liebe zum Leben“; der Jesuit Rupert Lay formuliert sein Biophilie-Postulat im Buch „Ethik für Manager“ (1991) folgendermaßen:

„Handle stets so, dass du das personale Leben in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen Menschen eher mehrst denn minderst.“

Wenn wir das in Wirtschaft und Gesellschaft ein wenig mehr beherzigen würden nach dieser Krise, dann hätten wir aus diesem Zurückgeworfen sein auf das Leben selbst etwas Sinnvolles gelernt.

16. April 2020, Anselm Bilgri

Werte & Ethik in Corona Zeiten – Kolumne Anselm Bilgri

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